Festrede zum 125jährigen Gründungsjubiläum des DBMB von Holger Starke

Das Bierhaus ist der Schlüssel jeder Stadt. (Walter Benjamin)


Festrede zum 125jährigen Gründungsjubiläum des Deutschen Braumeister- und Malzmeisterbundes
von Holger Starke


Universität Leipzig, Audimax, am 16. Juni 2018


Sehr verehrter Herr Präsident Thomas Lauer, sehr verehrte Ehrenmitglieder und Mitglieder, meine
sehr verehrten Damen und Herren,
es ist mir eine große Ehre und Freude, heute vor den Mitgliedern des Deutschen Braumeister- und
Malzmeisterbundes sprechen zu dürfen. Im Hörsaal einer Universität, an der ich einst selbst studiert
habe. Als Stadt- und Wirtschaftshistoriker mit vielen Branchen vertraut, kann ich sagen, dass eine
solche Gemeinschaft, wie sie unter den Brauern bis heute existiert, eine schöne Ausnahme ist. Seit
ich vor über zwei Jahrzehnten, anlässlich des 125jährigen Jubiläums des Deutschen Brauer-Bundes, in
Dresden eine Ausstellung zum „Bierseligen Land“ (Sachsen) gezeigt habe, fühle ich mich als Teil
dieser Community. Was für mich Ansporn gewesen ist, der faszinierenden Geschichte der
Bierbrauerei immer wieder neue Seiten abzugewinnen. Und nicht zuletzt kam ich hierüber mit sehr
vielen interessanten Menschen ins Gespräch, darunter auch mit einigen Ehrenmitgliedern dieses
Bundes wie Ludwig Narziß, Wilfried Rinke, Karl-Ullrich Heyse, Wolfgang Kunze und Peter Kraus.
Der Campus befindet sich nur einen Steinwurf entfernt vom Gewandhaus. Vor 25 Jahren fand dort
der Braumeistertag zum 100. Jubiläum statt, auf dem Hans Günter Schultze-Berndt eine fulminante
Festrede gehalten hat. Ich hatte das Glück, diesen klugen und fröhlichen Mann persönlich kennen
gelernt zu haben; sein letzter Aufsatz fand Aufnahme in mein erstes Buch zur Braugeschichte. Und so
weiß ich, dass es verlorene Liebesmüh‘ wäre, ihn kopieren zu wollen – auch deshalb, weil uns mehr
als eine Generation trennt. Und weil ich zu den Historikern zähle, denen nach seinen Worten (wie
den Dichtern) die Aufgabe zufalle, für eine schönere Vergangenheit zu sorgen. Für eine schönere
Gegenwart waren nach Schultze-Berndt hingegen die Braumeister (also auch er selbst) und „die
Damen“ verantwortlich. Nun gut, letzteres würde man heute sicherlich nicht mehr so sehen, auf
jeden Fall nicht sagen. Aber so ist das halt mit der Geschichte, dem Blick zurück und nach vorn –
beides verändert sich. Doch nun will ich im Andenken an diesen außergewöhnlichen Mann meinen
Beitrag dazu leisten, dass der „allgemeine Meinungsaustausch“ in „Collegialität“ gepflegt wird – so
wie in den Bundesstatuten von 1893 festgeschrieben. Und dann kann ich nur hoffen: Ihnen gefällt‘s.
Wobei ich zur Entwicklung des Bundes selbst, zu den hiesigen Brauereien und zum Leipziger Bier nur
wenig sagen werde. Zum einen hat dies Hans Günter Schultze-Berndt vor einem Vierteljahrhundert

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bereits in aller Ausführlichkeit getan. Zum anderen liegt seit kurzem eine umfangreiche Leipziger
Brauereigeschichte als CD-Edition vor – zusammengetragen von Hans Manger, Uwe Noack und
Michael Schmidt. Enthalten ist auch ein von Gregor Schneider verfasstes Kapitel zur Geschichte des
DBMB. Meine Hochachtung für diese Leistung und die Punktlandung! (Sie halten die CD in den
Händen.) Und da nun dieses Mammutwerk in der Welt ist, kann ich mich auf mein ureigenes Metier
beschränken. Ich werde eingangs das historische Umfeld beschreiben, in dem der DBMB entstanden
ist, um danach etwas zum Gründungsort und zum Gründungspräsidenten zu sagen. Einem Exkurs auf
die Welt und die Stadt Leipzig in Vergangenheit (1893) und Gegenwart (2018) schließt sich ein
persönlich gehaltener Blick auf die Leipziger und die Sachsen an, um letztlich beim sächsischen Bier
zu enden. Denn all das, was ich hier erzähle, hat selbstverständlich irgendwie mit dem Bier zu tun.
Im 19. Jahrhundert kam in den wirtschaftlich entwickelten Staaten, zu denen das Deutsche Reich
gehörte, die moderne Welt zum Durchbruch – getrieben von der auf Kohle und Stahl basierenden,
auf andere Branchen ausstrahlenden Industrie. Binnenwanderungen führten zu einem ungeheuren
Städtewachstum. Die Lebens- und Arbeitswelt, aber auch die eigene Umgebung, veränderten sich in
starkem Maße. Deutschland wurde vom Agrar- zum Industriestaat, in dem bald mehr Menschen in
den Städten als auf dem Land wohnen sollten. Der an der Harvard-Universität lehrende
Wirtschaftshistoriker David S. Landes sprach mit Blick auf den sich in Westeuropa zuerst
vollziehenden Prozess vom „entfesselten Prometheus“, der den technologischen Wandel und die
industrielle Entwicklung in Gang gebracht hatte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde
schließlich aus dem Braugewerbe eine Industrie. Und zwar auf der Grundlage wegweisender
Verfahren (Untergärung), technischer Neuerungen (Eismaschine), wissenschaftlicher Erkenntnisse
(Hefereinzucht) und einer Wissenschafts- und Ausbildungslandschaft (1865 Weihenstephan, 1883
VLB, 1895 Doemens) einschließlich der Fachpresse (1861 Hans Carl), die weltweit ihresgleichen
suchte. Befördert vom Wirtschaftswachstum, dem Ausbau der Infrastruktur und einer maßvollen
Steuerpolitik war die Brauerei zur Wachstumsbranche par excellence geworden. Zugegeben, in
einem idealen Umfeld: Eine junge, wachsende Bevölkerung trank immer mehr Bier – in der Freizeit
und auch im Beruf (Bier war selbst auf den sächsischen Staatseisenbahnen ein Bestandteil des
Lohnes!). Und zwar jene Sorten, die modern (aber nicht unbedingt viel teurer) waren. Der Export
boomte, Braumeister verbreiteten den Ruf des deutschen Bieres über die gesamte Welt. Diese, sich
international vollziehende, mittels Austausch und Industriespionage verbreitete Entwicklung war in
Deutschland von Bayern ausgegangen. Das benachbarte, frühzeitig industrialisierte Sachsen nahm
die Rolle des Mittlers vom Süden zum Norden ein. So setzte der Aufschwung der Kulmbacher
Exportbrauindustrie mit dem Investment sächsischer Geldgeber ein. Später fand das helle Pilsner
Eingang aus Böhmen, um als (leichtes) deutsches Pilsner schließlich im Verein mit anderen

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untergärigen Bieren das obergärige Einfachbier immer mehr zu verdrängen. Und schließlich ebnete
das Reichsgericht in Leipzig mit seiner Entscheidung zum (Radeberger) Pilsner (Gattungs- statt
Herkunftsbezeichnung) den Weg für die von den Großunternehmen verfolgte Markenstrategie.
Die mit dem Großbetrieb verbundene Entwicklung kannte jedoch nicht nur Gewinner. Der zu den
„Privatbeamten“ zählende Braumeister, im Betrieb ehedem die dominierende Person mit voller
Entscheidungsgewalt, geriet zwischen die Fronten. Einerseits der mächtiger werdenden Kapitalgeber
mitsamt Geschäftsführung und kaufmännischer Abteilung und anderseits der Gewerkschaften, die
einen geregelten Dienstbetrieb und einen größeren Anteil am Unternehmensertrag für die
Brauereiarbeiter einforderten. Stellenvermittlung, Lehrlingsausbildung, Weiterbildung und
Altersversorgung waren weitere Punkte, die der Regelung bedurften. Am 10. Dezember 1893, nach
einem wahren Tagungsmarathon im Jahresverlauf (Leipzig, München, Braunschweig, Nürnberg)
wurde der Deutsche Braumeister- und Malzmeister-Bund aus der Taufe gehoben. Die zentrale Person
war der Direktor der Leipziger Riebeck-Brauerei Friedrich Wilhelm (Fritz) Reinhardt. Ihm waren die
Probleme vertraut, hatte er doch als Brauer von der Pike auf gelernt und in den berühmtesten
Betrieben Europas gearbeitet. Er sollte den Bund mit anfänglich 1.100 Mitgliedern bis 1920 führen.
Welcher Ort wäre hierfür besser geeignet gewesen als die alte Messe- und junge Industriestadt
Leipzig? Im Zentrum des Eisenbahnnetzes gelegen, das auf der Grundlage des genialen Planes
entstanden war, den sechs Jahrzehnte zuvor Friedrich List entwickelt hatte, damit auch eine Vision
für ein geeintes Deutschland entwerfend? Und nachdem zum 1. April 1893 (kein Scherz!) die
Mitteleuropäische Zeit eingeführt worden war, konnte Fritz Reinhardt darauf vertrauen, dass die
Kollegen aus Nah und Fern, von Königsberg bis Aachen, pünktlich vor Ort waren. Bis dahin hatten sich
nämlich die Eisenbahngesellschaften nicht auf eine einheitliche Zeitzone einigen können, so dass es
durchaus vorkommen konnte, das man früher ankam als man abgefahren ist – was das Reisen auf
den „Autobahnen des 19. Jahrhunderts“ doch sehr erschwert hatte.
Der Zusammenschluss zur Wahrung der Standesinteressen (es gab zwei Vorläuferorganisationen)
vollzog sich in einer Zeit, in der Politik zum Beruf wurde. Sie organisierte sich nun im Reichsmaßstab
und bedurfte damit auch der Vermittlung der Medien, damals vorwiegend der Presse. An die Spitze
des DBMB konnte nur ein Mann treten, der allgemein geschätzt und gut vernetzt war sowie über ein
großes Vermögen verfügte. Vereine, Verbände und Parteien wurden nämlich damals noch von
Honoratioren geführt – Bürgern im Ehrenamt, die Multifunktionäre waren. Eine Besoldung galt für
solche Ämter als unschicklich und war in der Politik sogar ausdrücklich verboten. Das
organisatorische „Hinterland“ für Reinhardt war die Leipziger Riebeck-Brauerei – so wie der Sitz des

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Deutschen Schokoladenverbandes sich in Otto Rügers Fabrik in Dresden, später bei Ludwig
Stollwerck in Köln, befunden hat.
Lassen Sie mich nun einen großen Sprung in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg machen. Leipzig
wäre vielleicht Bundessitz geblieben, wenn nicht die Amerikaner, die die Stadt befreit hatten, die
Region gemäß der Vereinbarung von Jalta der Roten Armee überlassen hätten. So wurde der Bund in
Dortmund ansässig, wohin glücklicherweise auch die Unterlagen und die Bundesfahne gelangt sind.
Doch kehren wir gleich in die Welt und in das Leipzig des Jahres 1893 zurück. Angesichts der soeben
eröffneten Weltmeisterschaft beginne ich mit dem Fußball. Die Engländer, die eher als Tee- denn als
Bierkenner bekannt sind, brachten den Sport auf den Kontinent. Damit entstanden zwei neue
Zielgruppen für die Brauer: durstige Fußballer und durstige Zuschauer. In Leipzig wurde just im Jahre
1893 mit dem Kicken begonnen, vorerst von Schülern einer Realschule. Sieben Jahre später wurde
der DFB (in Leipzig) begründet und 1903 der erste Meister gekürt: der VfB Leipzig. Die Schweizer, die
ihre Nationalmannschaft salopp „Nati“ [naadi] nennen, waren der erste Gegner der Deutschen.
Hoffen wir auf viele Siege unseres Teams – das seit einiger Zeit unter der etwas diffusen Bezeichnung
„Die Mannschaft“ an die Öffentlichkeit geht. Denn nicht zuletzt befördern deren Erfolge bekanntlich
den Bierabsatz. Zum erfolgreichen Weg des Leipziger Bundesligisten trägt im Übrigen (wie ich
gelesen habe) nicht nur die Rote Brause, sondern auch ein gutes Bier aus Leipzigs Umgebung bei.
1893 wurde auch das Frauenwahlrecht eingeführt. Jedoch vorerst nur am anderen Ende der Welt, in
Neuseeland. Deutschland folgte erst 25 Jahre später. In den Brauereien traf man Frauen damals noch
immer nur beim Flaschenspülen an, unter Aufsicht männlicher Vorarbeiter. Heute stehen sie im
Brauhaus, im Forschungsinstitut oder auch in Verbänden ihren Mann (ja, die Sprache verändert sich
halt nicht durch ein Sternchen). In den Führungspositionen der Männerdomäne sind sie freilich noch
immer nur in homöopathischer Dosis vertreten. Immerhin wurde nach 1990 ein Anfang gemacht: sie
rückten an die Spitze sächsischer Brauereien und des Verbandes privater Brauereien
Mitteldeutschlands, in die Geschäftsführung des Sächsischen Brauerbundes und 2013 als
Präsidialmitglieder auch in den Vorhof des Präsidiums des DBMB ein.
1893 war das Jahr, in dem der Sachse Karl May – noch vor Goethe (!) der meistgelesene deutsche
Schriftsteller –, die drei „Winnetou“-Bände veröffentlichte. Zwar nicht in der Buchstadt Leipzig, aber
dorthin kamen sie bald: auf die größte deutsche Buchmesse und zur Einlieferung in die Deutsche
Bücherei – dem vom Börsenverein der Deutschen Buchhändler, Stadt und Staat begründeten Archiv
des deutschen Schrifttums. 1893 wurde auch ein Leipziger geboren, der 1961 im schönsten Dialekt
der Pleißestadt behauptete: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Eine Nachricht aus

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der Kategorie „Fake News“, wie man heute sagen würde. Und nicht nur deshalb erinnert man sich in
Leipzig an Walter Ulbricht nur ungern. Stolz ist man hingegen auf Friedrich Schiller, der hier die erste
Version seiner „Ode an die Freude“ schrieb, die in der Vertonung Beethovens zur Hymne der
Europäischen Union wurde. Bei deutschen Brauern dürfte die Freude etwas verhaltener ausfallen,
wenn die Rede auf die EU kommt. Ist doch noch gut in Erinnerung, dass bei der Harmonisierung des
Lebensmittelrechts beinahe das 500 Jahre alte Reinheitsgebot unter die Räder gekommen wäre. Ehe
im letzten Moment, quasi durch die Hintertür, das deutsche Bier Aufnahme unter die 15
„traditionellen Lebensmittel“ in Europa fand. Das war wirklich knapp!
Bevor wir uns nun im „Leipziger Allerlei“ (d. i. eigentlich ein Gemüsegericht) verlieren, richten wir
noch einen Blick über den Atlantik. Auf der Weltausstellung in Chicago 1893 wurde (aus europäischer
Sicht) die Entdeckung Amerikas gefeiert. Die heute im „Rust Belt“ gelegene Stadt war damals eine
aufstrebende Industriemetropole. Ob das gewaltige Riesenrad, das den Eiffelturm in den Schatten
stellen sollte, die größte Attraktion war, wage ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall konnten all
diejenigen, die den Mut aufbrachten, in den eisenbahnwagengroßen Gondeln über das Festgelände
zu schweben, danach deutsche „Gemutlickkeit“ bei deutscher Blasmusik und deutschem Bier
erleben. Zum Ausschank in den Festzelten kamen Biere aus München, Berlin, Bremen, Bitburg,
Kulmbach, Nürnberg und Radeberg, möglicherweise auch aus Leipzig, die sich getreu dem Motto
Voltaires „Das Bessere ist der Feind des Guten“ dem Urteil des Publikums und der Jury stellten.
In Leipzig erschien wiederum 1893 eine Dissertation, die bei Brauern und Historikern gleichermaßen
Beachtung fand: Emil Struves Studie zur „Entwicklung des bayerischen Braugewerbes im 19.
Jahrhundert“. Etwas später veröffentlichte Gustav Stresemann, der an der Leipziger Universität
studiert hatte, seine Doktorarbeit zum „Berliner Flaschenbiergeschäft“. Seine Karriere führte ihn bis
zum Reichskanzler, Außenminister und Friedensnobelpreisträger. Wie Fritz Reinhardt war er ein
Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, den eine pragmatische Denkweise auszeichnete, die den Alltag
der kleinen Leute im Blick behielt, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren.
Womit wir wieder bei Leipzig angelangt wären, das sich heute im Zentrum Europas befindet – in alle
Himmelsrichtungen per Auto- und Eisenbahnen, über das Daten- und Energienetz (Strombörse)
sowie das Luftdrehkreuz Halle/Leipzig mit der Welt verbunden. Vielleicht wird ja auch noch der
einhundert Jahre alte Plan des Anschlusses an die Weltmeere via Wasserweg Realität? Es fehlt ja nur
noch ein kleines Stück; der Citytunnel lässt grüßen. Leipzig ist noch immer eine Industrie-, Messeund Universitätsstadt. In den Autowerken, auf der Neuen Messe, bei Amazon und am Airport
herrscht Hochbetrieb. Zudem ist Leipzig ein Eldorado der Musik – von den Thomanern über Bach,
Wagner und Mendelssohn-Bartholdy bis zu den „Prinzen“. Man ist stolz auf den „Zoo der Zukunft“

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und auf das Bildermuseum, in dem die „Leipziger Schule“ den ihr gebührenden Platz gefunden hat.
Und ebenso fasziniert von deren Nachfolgern um Neo Rauch, die den internationalen Kunstmarkt
gehörig durcheinandergewirbelt haben. In Leipzig hat der MDR seinen Sitz. Die vielen
Schunkelsendungen, Boulevardmagazine, DDR-Revivals und Zooberichte trugen ihm den etwas
despektierlich gemeinten Spitznamen „Heimatsender“ ein. Jedoch ist das Fernsehprogramm mit
Reportagen „Wem gehört der Osten“ auch am Puls der Zeit; das breit gefächerte Hörfunkprogramm
ist ohnehin exzellent.
Leipzig ist ein weltoffener Ort. „Legida“ konnte hier nie Fuß fassen, dafür toleriert man die
mittlerweile zur Attraktion gewordene schwarzgewandete Gothic-Szene. Und was sich die
Teilnehmer des Braumeistertages von 1993 nur mit großer Phantasie vorstellen konnten, ist
Wirklichkeit geworden: Die alten Bürgerhäuser sind durchweg saniert (die Arbeiterviertel hinken
etwas hinterher), Solitäre künden von der neuen Zeit. In Sichtweite des neuen Campus steht die
Erinnerung an die unter Ulbricht geschleifte Paulinerkirche. Man kann durch „Klein-Venedig“ gondeln
oder sich in der Moritzbastei unter die Studenten mischen. Wer’s alternativ mag, fährt in die
Kulturfabrik ans Connewitzer Kreuz. Die Kneipenszene hält für jeden etwas bereit – vom
„Drallewatsch“ bis zur „Karli“ (Karl-Heine-Straße). Dokumentarfilmwoche und Kabaretts sind
Leipziger Highlights, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Startups und Künstler haben alte
Fabriken wie die Baumwollspinnerei, das Tapetenwerk und das Gebiet am Heine-Kanal in Beschlag
genommen. Die Mondlandschaft der früheren Braunkohlentagebaue mit ihren riesigen
Abraumgeräten wird seit über zwei Jahrzehnten zu einer Seenoase umgestaltet; Ferropolis (die
„Stadt aus Eisen“) bildet eine eindrucksvolle Kulisse für Konzertevents.
Doch das Wichtigste sind die Leipziger selbst. Ich sage das nicht als Höflichkeitsfloskel, sondern weil
ich immer gern hier war und bin. Damals beim Studium, heute beim Besuch von in der Stadt
wohnenden Freunden, hier arbeitenden Kollegen oder meiner studierenden Tochter. Ich schätze den
Stolz der Leipziger auf ihre Stadt, aber das findet man auch anderswo. Die Leipziger haben, darüber
hinaus, noch eine besondere Mentalität, die sie selbstbewusst in sich tragen und die man nach einer
Weile des Hierseins unmerklich annimmt. Ich möchte sie mal als „Leipziger Leichtigkeit“ bezeichnen:
Das Leben so zu nehmen, wie es ist, darin immer das Schöne zu suchen. Nicht so kompliziert oder gar
dünkelhaft zu werden. Gelassen bleiben, wenn man‘s nicht ändern kann, aber gemeinsam aufstehen,
wenn‘s reicht. Und sich „geen Gopp mach‘n“, was denn so passieren könnte oder was andere reden.
Ich will jetzt nicht auf die Freizeitkrieger zu sprechen kommen, die in historischen Uniformen die
Schlacht von 1813 nachstellen, auch nicht auf das an den Herbst 1989 erinnernde Event „Lichtfest“.
Sondern nur drei kleine Geschichten erzählen. Die erste handelt von Jürgen Schneider, dem

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Spitzbuben aus dem Taunus. Der jedoch einen Sinn für‘s Schöne hatte: für die Bürgerhäuser und
Passagen, an deren Sanierung sich niemand herantraute. Die Leipziger waren ihm dafür dankbar.
Dass er Milliardenschulden hinterließ, trug ihm, nachdem die Deutsche Bank von „peanuts“
gesprochen hatte, eher Sympathien ein. Die Stadtführungen auf den Spuren des Baulöwen sind bis
heute ein Renner. Die zweite Geschichte betrifft den unbequemen Schriftsteller Erich Loest. Er hat
sich in der DDR mit „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978), im Westen
Deutschlands spätestens mit „Nikolaikirche“ (1995) einen Namen gemacht. Nur wenige kennen aber
die unter dem Pseudonym Waldemar Naß verfasste köstliche Parodie auf den ständig betrunkenen
Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront „Ich war Dr. Ley“ (1966). Eigentlich Pflichtlektüre für DBMBMitglieder, denn der Bund ist ja nach der „Gleichschaltung“ von 1933 in der DAF aufgegangen. Ich
schlage vor: Lesen Sie‘s bei einem guten Leipziger Bier in einem der urigen Biergärten wie der
Reudnitzer „Substanz“, am Bayerischen Bahnhof oder an der Weißen Elster. Drittens meine ich, dass
der Titel „Musikstadt“ erst dann zutrifft, wenn Musik Teil des Alltags ist. Und so komme ich doch
noch einmal auf 1989 zurück. Denn alles begann damit, dass in Leipzig Jugendliche verhaftet wurden,
die ohne Genehmigung auf der Straße musiziert hatten. Und was kann es da heute Schöneres geben
als die „Leipziger Notenspur“ – eine Nacht der Hausmusik, in der die Leipziger ihre Häuser und
Wohnungen öffnen, um miteinander zu musizieren oder einfach nur anderen dabei zuzuhören?
Nun komme ich endlich zu unseren Gastgebern. In den Dank an Sie schließe ich die Leipziger ein, die
1997 in einer grandiosen Solidaritätsaktion das von den früheren Inhabern vorgesehene Aus für
„ihre“ Traditionsbrauerei verhindert haben. Die Geschichte am Standort begann 1862. Nach 1871
entwickelten Vater und Sohn Reinhardt die Riebeck-Brauerei zum großen Player der mitteldeutschen
Brau- und Malzindustrie. 1945 enteignet und als Landesbrauerei weitergeführt, wurde das später in
Sachsen-Bräu umbenannte Werk schließlich Stammbetrieb des Getränkekombinats Leipzig. Nach
dem Treuhand-Intermezzo 1990/91 ging das nunmehrige Reudnitzer Brauhaus an Brau & Brunnen
Dortmund, 2004 an die Radeberger Gruppe. 2012 erfolgte die Umbenennung in Sternburg Brauerei.
Eigentümer, Namen und Zeichen haben also mehrfach gewechselt, die Biermarken ohnehin. Das alte
Warenzeichen von Riebeck kam noch martialisch daher: Es zeigte eine in schwarz-weiß-roter Staffage
eingefasste explodierende Bombe. Das Logo auf den heutigen „Sterni“-Flaschen ist der Überrest des
„sprechenden“ Wappens der Brauereipioniere Speck von Sternburg. Dies passt besser zu einer
Brauerei und in unsere Zeit, zu den Sachsen ohnehin, aus deren Mund militärische Befehle einfach
nur komisch klingen. In der Hitler-Zeit sollte ihnen mit einem Spracherziehungsprogramm sogar der
„unsoldatische“ Dialekt ausgetrieben werden. Aber Sie ahnen es schon: das war ein Fehlschlag. Das
„Staatsvolk der DDR“ (so die westdeutsche Journalistin Marion Menge) hatte sich nämlich längst von

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der Kriegskunst ab- und anderen Künsten zugewandt. Ja gut, das war ein wenig geschönt. Auf jeden
Fall haben Tüftler in Sachsen manch nützlich Ding erfunden: den Bierflaschen-Patentverschluss, den
Bierdeckel, den Teebeutel, den Büstenhalter und (alles hat ein Ende) den Leichenverbrennungsofen.
Vor diesem Hintergrund gesehen, hätte der Spruch der baden-württembergischen Imagekampagne
„Wir können alles außer Hochdeutsch“ ideal zu Sachsen gepasst. Er wäre aber auch für die Brauerei
an der Mühlstraße zutreffend gewesen, die sich noch am Ort von 1862 befindet. Dreimal wurde sie
umgebaut, was jedes Mal einem Neubau bei laufender Produktion gleichkam. Vergnüglich zu lesen
ist, wie „helle“ und „fichelant“ man den Widrigkeiten der sozialistischen Staatsökonomie begegnete:
mit einer „Heizlok“ und einer Sonderkonstruktion zur Rohfrucht-Zerkleinerung (Ja ja, in der DDR galt
das Reinheitsgebot nicht). In den 1970er Jahren wurde im damaligen VEB Sachsen-Bräu die
republikweit erste Großtankanlage für Gärung und Reifung mit externer Kühlung errichtet. Ein in
Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin und dem Chemieanlagenbaukombinat „Germania“
Karl-Marx-Stadt (man beachte die Namenskombination!) umgesetztes Projekt, für das sich sogleich
eine Technikergruppe aus Bitburg um Axel Simon interessierte. Aus späteren Zeiten haben mich
(Pardon, ich bin kein Techniker) vor allem der Einsatz der umweltfreundlichen Gasmotoren und die
Kohlendioxidrückgewinnung interessiert. Aber auch solch blumige Bezeichnungen fasziniert wie
„Shakesbeer“ (Maischsystem), „Pegasus“ (Läuterbottich), „Stromboli“ (Würzepfanne) und
selbstredend das High-Gravity-Verfahren. Oder um es im heutigen Sprachmix auszudrücken: Die
Location in der Mühlstraße ist eine hippe Hightech-Kathedrale! Well done!
Zum Abschluss doch noch einige Worte zum sächsischen Bier. Die hiesigen Brauer behaupten ja gern,
dass das „magische Dreieck des Bieres“ Bayern, Böhmen und auch Sachsen umfasse. Nun kann aus
einem solchen Dreieck rasch einmal ein Bermuda-Dreieck werden; aber das wollen wir nicht hoffen.
Dennoch will ich einmal prüfen, was es mit der Behauptung auf sich hat. Für Mittelalter und Neuzeit
ist die Lage klar: Damals kamen von hier exzellente Biere wie das „Torgisch“ und das „Freybergisch“,
während die Kunst des Brauens sonst eher im Norden beheimatet war. Der Gelehrte Johann Knaust
berichtete in seinen „Bewehrten Bierkünsten“ 1575, dass auch Leipzig ein gutes Rot-Bier habe, das
eine „wahre Gottesgabe“ sei. Der von den Studenten vergebene „schändliche“ Name „Rastrum“
(Kopfschmerz) treffe nämlich nur zu, wenn „man’s saufen und nicht trinken tue“. Aber das ist ja wohl
immer so. Für das 19. Jahrhundert, dafür stehe ich selbst mit meinen Forschungen ein, hat das
Bierland Sachsen seine Stellung erneuern und später trotz abnehmender Bedeutung i. W. behaupten
können – selbst, wenn hier kein eigener Biertyp wie anderswo kreiert worden ist. Sieht man von der
Gose ab, die so etwas wie ein Leipziger Nationalgetränk geworden ist – gewissermaßen ein Craft

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Beer aus früherer Zeit. Über das Original hieß es 1784 im „Vollkommenen Bierbrauer“: „Ein
Wundertrank ist wohl die Goßlarische Gose. Wer dessen zu viel trinkt, der nehm in acht die Hose.“
Doch wie steht es mit dem Bier in der Gegenwart? In Sachsen gibt es 55 Braustätten, eine mehr als
1990/91, vor dem großen Brauereisterben. Nach Nordrhein-Westfalen und Bayern wird in keinem
Land mehr Bier als in Sachsen (8,3 Mio. hl) gebraut. Bei der Pro-Kopf-Menge ist der Freistaat mit 195
Liter sogar spitze! Das Gros des Ausstoßes wird in den Betrieben der großen Braugruppen gebraut.
Die mittleren Betriebe und die vielen neuen Kleinstunternehmen (in Leipzig: fünf) sind jedoch
äußerst wichtig für die flächendeckende Verankerung der Bierbrauerei und der Bierkultur im Land
selbst. Auf das steuerliche Interesse des Staates, das gar nicht so hoch ist, wie oft angenommen,
sollte man sich nicht verlassen. Denn wenn es um größere Dinge geht, so mein Fazit aus der
Erforschung der jüngeren Geschichte, tritt all dies schnell in den Hintergrund. Nur eben dort nicht,
wo Bierkultur vor Ort gelebt wird, viele Menschen auf die eine oder andere Art und Weise mit dem
Produkt verbunden sind und ihm damit wohlwollend gegenüberstehen. Eine große Herausforderung
angesichts einer sich (vor allem kulturell) rasch ändernden Gesellschaft!
Walter Benjamin, der welt- und wortgewandte Philosoph und Kulturkritiker, lebte in einer ähnlich
schnelllebigen Zeit wie der unsrigen. 1928 brachte er im Essay „Stehbierhalle“ einige Gedanken zu
Papier, die bei der Bewältigung dieser Anforderungen zugleich Ansporn und Anregung sein könnten.
Mit Blick auf die Matrosen, deren Heimat das Schiff war, schrieb er: „Das Bierhaus ist der Schlüssel
jeder Stadt; zu wissen, wo es deutsches Bier zu trinken gibt, Länder- und Völkerkunde genug.“
In diesem Sinne gratuliere ich Ihnen, sehr verehrte Bundesmitglieder, herzlich zum 125jährigen
Jubiläum des Deutschen Braumeister- und Malzmeisterbundes – einer Vereinigung, die sich über den
Weg der Verbindung der Berufsgenossen große Verdienste um das deutsche Bier erworben hat.

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